Berufsausbildung in Ägypten: Schwere Zeiten, entschlossene Mädchen

Von Gesa von Leesen

Immer mehr Menschen haben immer weniger zum Leben, das Militär macht sich breit, Regimekritiker:innen werden hart verfolgt – Ägypten. Seit zehn Jahren unterstützt ein Verein aus Esslingen in Oberägypten berufliche Bildung. So fangen Mädchen an zu träumen.

„Ana!“, „Ana!“, „Ana!“ - „Ich!, „Ich!“, „Ich!“ rufen die jungen Mädchen, strecken ihre Arme in die Höhe. Aus den meist straff gebundenen Kopftüchern strahlen eifrige Gesichter. Sie wollen erzählen, warum sie hier im Dorf Toth 20 Kilometer südlich von Luxor, unbedingt Elektrikerin lernen wollen. Sie sind an diesem Tag in das „Deutsche Projekt“ an der Berufsschule El Odaisat aufgenommen worden und darauf sind sie sichtlich stolz.

Seit zehn Jahren engagiert sich der Verein GRUSSI aus Esslingen in Luxor für die berufliche Ausbildung im Bereich Elektro und Sanitär. Jedes Jahr beginnen zwischen 15 (Sanitär) und 35 Schüler:innen (Elektro) im „Deutschen Projekt“, wie es an der Schule genannt wird, ihre dreijährige Ausbildung. Der Verein finanziert über Spenden Material, hat drei Werkstätten eingerichtet, berät fachlich. Ziel ist es, die praktische Ausbildung voranzubringen. Eingebettet ist das Projekt in eine normale Berufsschule, an der junge Ägypter:innen nach der zehnten Klasse eine Ausbildung in Metall, Holz, Elektro, Sanitär sowie Nähen/Stricken und Malen machen können.

Große Pläne, wenig Ergebnisse

Hört sich gut an, doch es fehlt an allen Ecken und Enden, vor allem an Material und an Lehrern. Seit 2014 wurden hier keine neuen Leherer:innen mehr eingestellt, berichtet der Direktor der Schule und schüttelt dabei verzweifelt den Kopf. „Nirgends“, schiebt er noch hinterher.

Das verwundert, wurde den Deutschen vom Esslinger Verein Grussi, die jedes Jahr im Oktober kommen im vorigen Jahr von zwei hochrangigen Männern aus dem Bildungsministerium in Kairo wortreich erklärt, dass Ägypten nun so richtig in die Berufsausbildung investieren will. Neue Schulen, mehr Material, mehr Praxisunterricht, Training für Ausbilder. Hörte sich alles doll an, konkrete Ergebnisse sind zumindest an der Schule in Toth Mit seinen 1.315 Schüler:innen nicht feststellbar.

Zwar wurden neue Schulen gebaut, alte werden saniert und es gibt einen neuen praxisorientierten Lehrplan – aber ohne Lehrer und Material passiert halt wenig. Stattdessen übernimmt das Militär Berufsschulen. „Nur für die Organisation und Disziplin“, heißt es am Rande des Abschlussfestes an der Schule. Denn auch das gehört zum Deutschen Projekt: Wer die dreijährige Ausbildung in Elektro oder Sanitär erfolgreich abschließt, erhält einen Werkzeugkoffer und eine Urkunde, dass er/sie nach deutschen Standards ausgebildet wurde. Offenbar funktioniert´s. Eine ganze Reihe der Absolventen arbeitet auf dem Bau, viele studieren auch, weil sie mit dem Berufsschulabschluss ein fachverwandtes Studium aufnehmen können.

Keine Lehrer, kein Material – der Abgeordnete schaut weg

Zum Abschlussfest an diesem Tag Mitte Oktober gekommen sind Repräsentanten aus dem Gouvernat (vergleichbar den deutschen Bundesländern), der Schulbehörde und sogar ein Parlamentsabgeordneter, der in der Gegend wohnt und von dem niemand weiß, welcher Partei er angehört. Der Abgeordnete hält eine freundliche Rede: Sehr schönes Projekt, vielen Dank an die deutsche Delegation, so können die jungen Leuten gut lernen und das müssen sie auch, denn lernen ist wichtig usw. usf.

Danach ist die Vereinsvorsitzende dran. Auf Deutsch mit Übersetzer beglückwünsche ich die Schüler, begrüße die Neuen und sage an den  Abgeordneten gewandt: „Zum Lernen braucht es vor allem Lehrer, Lehrer, Lehrer und Material, Material, Material. Es wäre schön, wenn es das gäbe.“ Der Abgeordnete, der ansonsten vorne auf dem Podium sitzend vor allem telefoniert, schaut demonstrativ in eine andere Richtung.

Seit Abdel Fatah El-Sisi sich im Juli 2013 an die Macht geputscht hat – was nach dem chaotischen Jahr unter dem Islamisten Mursi bei vielen Ägypter:innen auf Unterstützung stieß – und nach seiner Wahl zum Präsidenten im Juni 2014 hat er seine Machtstellung stetig ausgebaut. Sichtbar für die deutschen Vereinsmitglieder waren in den vergangenen zehn Jahren Sanierungen sowie der Neubau von Polizeistationen und mehr Militärcheckpoints. In diesem Jahr fielen erstmals große Plakate mit Werbung für Militär und Polizei auf – dramatische, martialische Fotos, die eher beängstigend wirken als vertrauenserweckend. Es ist viel Uniform auf den Straßen zu sehen. Blutjunge Männer in Tarnfleck, die ihren Militärdienst absolvieren, oft mit MP über der Schulter, gelangweilt oder ratlos blickend. Die in den weißen Uniformen, zum Teil Touristenpolizei und Militär. Und Geheimpolizei. Diese Männer in Zivil (meist in Jeans, kariertem Hemd, Sakko, schwarzen, geschlossenen Schuhen) haben auch die deutschen Besucher:innen schon kennen gelernt. Wer als Tourist glaubt, einfach so Zug fahren zu können, hat sie schnell an der Seite. Zum Schutz, wie es stets heißt.

Wüstenstädte bauen, aber nichts zu essen

Ansonsten sind die Geheimdienste vor allem hinter Aktivist:innen und Regimekritiker:innen her. Menschenrechtsorganisationen berichten von 60.000 politischen Gefangenen. Öffentlich über Politik zu reden, ist also gefährlich, unter vier Augen sieht es anders aus. Wie könne es sein, dass eine neue Stadt in der Wüste gebaut werde, es den Menschen aber immer schlechter gehe? Das fragen sich einige Ägypter.innen.

„Unter Mubarak war alles besser“, ist oft zu hören. Ebenso, dass der Staat so viel Geld haben wolle. Für alles möglich müssten nun Gebühren bezahlt werden: wenn das Haus um eine Etage aufgestockt oder das eigene Grundstück bebaut werden soll. Für Ägypter:innen pure Schikane. Tatsächlich braucht der Staat Geld, denn im Grunde ist er pleite. Die Auslandsverschuldung steigt, 2020/21 mussten mehr als 50 Prozent der Staatseinnahmen für Zinszahlungen aufgewendet werden, heißt es in der kürzlich erschienen Studie „Kredite für den Präsidenten“ der Stiftung für Wissenschaft und Politik. Mit dem geliehenen Geld wird viel gebaut.

Zum Beispiel die neue Verwaltungshauptstadt in der Nähe von Kairo, die New Administrative Capital (NAC). Normale Durchschnittverdiener können sich die nicht leisten. Laut Regierung kostet sie 24 Milliarden US-Dollar, ausländische Schätzungen sprechen von 58 Milliarden USD. Die staatliche Betreibergesellschaft dieser Stadt stellt dem Staat jährlich 212 Millionen US-Dollar für Büromieten in Rechnung und die Mehrheitsbeteiligung an dieser Gesellschaft hält das Militär. Ihm gehören unter anderem zudem Lebensmittelfabriken und Bauunternehmen. Allerdings kriegt auch das Militär nicht alles hin: Vor circa sechs Jahren wurden hinter der Berufsschule in Thod eine LED-Lampenfabrik gebaut und komplett eingerichtet. Vom Militär, hieß es. Nun steht das Gebäude leblos da. Aber irgendwer hat sicherlich bezahlt und irgendwer hat sicherlich kassiert.

Endlich gibt es eine Krankenversicherung

In den vergangenen Jahren wurde Ägypten zudem zum drittgrößten Waffenimporteur der Welt. Der stetige Machtausbau des Militärapparates interessiert die Geldgeber im Westen nicht. Hauptsache, Ägypten macht den Seeweg dicht, damit keine Flüchtlinge kommen. Präsident El-Sisi weiß das, vergibt für neue Kredite gerne mal einen Auftrag an Siemens oder behauptet aktuell, einen nationalen Dialog über die Zukunft des Landes mit allen gesellschaftlichen Gruppen führen zu wollen. Alle sind natürlich nicht zugelassen, vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass mit Blick auf den am kommenden Sonntag beginnenden UN-Klimagipfel im ägyptischen Scharm El-Scheich der Westen beruhigt werden soll. Im Land allerdings scheint es zu gären. In den sozialen Medien wird für den 11. November zu einer Demo nach Kairo aufgerufen. Die US-amerikanische Botschaft in Kairo warnt ihre Staatsangehörigen bereits.

Ein Punkt zu wenig

Ob die Präsidenten nun Mubarak, Mursi oder Sisi heißen – die Masse der Ägypter:innen kommt irgendwie immer klar. Denn letztlich lässt sich stets auf die Familie zurückgreifen, das stärkste Sozialsystem, das auffängt – aber auch aufhält. Vor allem Mädchen. Ihre Rolle ist hier auf dem Land im südlichen Oberägypten klar: Ausbildung vielleicht, dann heiraten und Kinder kriegen. Doch es bewegt sich was. Die Mädchen, die auf den Bänken in der Elektrowerkstatt in Thot sitzen, sind 15 und 16 Jahre alt und sie haben Träume. Nach zehn Jahre Schule kommt nun die Ausbildung zur Elektrikerin im Deutschen Projekt und sie strahlen, wollen erzählen. Da ist Sayna aus einem benachbarten Dorf. Sie wäre fast nicht dabei gewesen. Für die Elektro-Ausbildung brauchen Mädchen im Schul-Abschlusszeugnis 220 Punkte (Jungen 200!). Sayna hatte 219. Am ersten Tag des diesjährigen Besuchs des deutschen Vereins stand sie in der Schule, wollte sich nicht geschlagen geben. Mit Tränen in den Augen erzählte sie von ihrem einen fehlenden Punkt. Zum Glück waren noch nicht alle Plätze besetzt und sie ist dabei. Warum will sie denn unbedingt mit Strom arbeiten? „Zu Hause habe ich schon mit meinem Vater zusammen Geräte repariert. Mir macht das Spaß.“

Mit der Schwester eine Elektro-Firma eröffnen

Ganz ernst und entschlossen schaut Mariam mich an. Ihre Schwester ist gerade im dritten Elektro-Lehrjahr des Projektes und ist eine der besten Auszubildenden. Der Ehrgeiz der großen Schwester sitzt auch in ihr. „Meine Schwester hat mir gesagt: Wenn du in das Projekt kommst, hast du gute Chancen.“ Also hat die 15-Jährige gelernt und 227 Punkte erreicht. Daheim hat sie vier Schwestern und drei Brüder zwischen 4 Monaten und 21 Jahren, sie hilft in der Landwirtschaft, betreut die kleineren Geschwister. Ihr Vater sei Busfahrer, ihre Mutter habe nichts gelernt, aber beide unterstützten ihre Töchter, erzählt sie. Sie gehört zu denen, die über ihr Leben reflektiert. „Es ist als Mädchen nicht einfach hier, die Traditionen sind sehr stark. Aber ich will arbeiten, ich will kämpfen und ich will ein Vorbild für andere Mädchen sein.“ Hat sie mit ihrer großen Schwester schon über die Zukunft geredet? Zum ersten Mal lächelt Mariam. „Wir wollen zusammen arbeiten, vielleicht ein Geschäft aufmachen.“

Und wie sieht’s mit Heiraten aus? Die Frage geht in die Runde der Elektro-Azubinen. Die Koptin Aghapy lächelt. Heiraten? Vielleicht. „Aber ich will keine Hausfrau werden“. Auch Sara ist sicher: „Ich lerne jetzt, um zu arbeiten. Ich werde niemanden heiraten, der mir das Arbeiten verbieten würde.“ Fast alle hier kommen vom Dorf, erzählen, dass sie ihre Freizeit vor allem in der Familie verbringen. „Es ist bei uns nicht so, dass man sich mit Freundinnen trifft und weggeht“, erzählt Sara. Sie sei bislang ein einziges Mal in Luxor gewesen. Ihr Traum: „Als Ingenieurin in London zu arbeiten.“ Gibt es weitere Traumorte? Einige Mädchen schauen fragend, als wäre die Idee, woanders zu leben, sehr merkwürdig. Doch bei anderen blitzen die Augen. „Luxor“, „Türkei“, „Saudi Arabien“, „Deutschland“. Wer fragt, erfährt viel von den Träumen der Mädchen in Ägypten.


Kontext-Redakteurin Gesa von Leesen ist Vorsitzende des gewerkschaftlichen Vereins Grussi in Esslingen, der an der beruflichen Schule im oberägyptischen Toth die Elektro- und Sanitärausbildung unterstützt.

Der Artikel erschien zuerst auf Kontext:Wochenzeitung am 02.11.2022